sweets processing 5-6/2025

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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„Kellerkinder“ an die Macht? KI als Chance in der Süßwarenindustrie

Die Süßwarenindustrie steht vor vielen Herausforderungen, wie Preissteigerungen bei Kakao, einem Rohstoffengpass bei Haselnüssen, der EU-Verpackungsverordnung und der Nach- frage nach neuen Produkten und Rohstoffen wie veganer Schokolade oder lokal erzeugtem Kakao. Gleichzeitig bieten technologische Entwicklungen große Chancen, diese Hürden zu überwinden. In diesem Artikel wird erörtert, wie KI eingesetzt werden kann und welche Herausforderungen überwunden werden müssen, um ihr volles Potenzial zu entfalten.

Von Prof. Dr. Christine Borsum Chair of Process Engine


Zwei zentrale Probleme sind die Preissteigerung bei Kakao und der Rohstoffengpass bei Haselnüssen, die die Produktion vieler Süßwaren belasten. KI könnte helfen, durch optimierte Anbautechniken und präzisere Wettervorhersagen Produktionskosten zu senken und Erträge zu steigern. Ein weiteres Pro-blem ist die Verpackung, ein zentrales Thema in der Nachhaltigkeitsdebatte. Die EU-Verpackungsverordnung setzt die Lebensmittelhersteller unter Druck, nachhaltigere Verpackungen zu entwickeln. KI-Methoden wie Reinforcement Learning könnten hierbei unterstützen, um auch mit rezyklierbaren Materialien robuste Produktionsprozesse zu gewährleisten. Zudem könnten KI-Algorithmen zur Haltbarkeitsprognose von Lebensmitteln in neuen Verpackungen und zur Überwachung kritischer Produktionsschritte eingesetzt werden, um Fehler frühzeitig zu erkennen und die Produktqualität zu verbessern.

Aktuell befinden wir uns im Stadium der überzogenen Erwartungen des Hype-Zyklus. KI wird oft als Allheilmittel betrachtet, was zu Enttäuschungen führt, wenn die Technologie nicht die erhofften Ergebnisse liefert. Ein Blick auf den Hype-Zyklus zeigt, dass nach anfänglichem Überschwang eine Phase der Enttäuschung folgt. Der wahre Durchbruch erfolgt jedoch, wenn die Technologie ausgereift ist und konkrete Lösungen bietet. Auch in der Süßwarenindustrie muss von der Enttäuschungsphase in eine produktive Phase übergegangen werden, indem interdisziplinär zusammengearbeitet wird.

Ein zentrales psychologisches Hindernis bei der Einführung von KI ist die Selbstwahrnehmung der Spezialisten, die sich auf ihre eigene Expertise verlassen und oft andere Disziplinen als weniger relevant erachten. Die Kommunikation zwischen Experten verschiedener Fachbereiche wird zudem durch unterschiedliche „Sprachen“ erschwert, da jeder in seinem eigenen Jargon gefangen ist. Diese Barrieren werden durch akademische Strukturen verstärkt, die häufig interdisziplinäre Zusammenarbeit behindern. Fördermittel, wie die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), werden oft nur für Projekte aus einer Disziplin vergeben, was die Entwicklung innovativer Lösungen erschwert.

Ein weiteres Problem ist, dass die akademische Ausbildung stark spezialisiert ist und wenig Raum für interdisziplinäres Arbeiten lässt. Fachleute aus verschiedenen Bereichen wie Lebensmitteltechnologie oder Informatik haben oft unterschiedliche Perspektiven und sind nur schwer für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zu gewinnen. Doch interdisziplinäres Arbeiten erfordert nicht nur Kommunikationsfähigkeit, sondern auch Neugier und Interesse an anderen Fachbereichen.

Eine Lösung könnte in der Ausbildung von „Brückenbauern“ bestehen, die mehrere Disziplinen miteinander verbinden können. Diese Fachleute müssen nicht nur Experten in ihrem eigenen Bereich sein, sondern auch ein Verständnis für andere Disziplinen entwickeln. Sie könnten als Bindeglied zwischen Informatik, Lebensmitteltechnologie und anderen Bereichen fungieren und die Umsetzung von KI in der Süßwarenindustrie vorantreiben. In der Informatik ist es für Quereinsteiger leichter, sich weiterzubilden. Plattformen wie Udemy und YouTube bieten flexible Weiterbildungsangebote, und viele Universitäten bieten kostenlose Vorlesungen zu KI-Themen an. Zudem entstehen immer mehr Plattformen, die es ermöglichen, KI-Modelle ohne tiefgehende Programmierkenntnisse zu entwickeln.

Bereits heute gibt es viele erfolgreiche Beispiele für interdisziplinäre Zusammenarbeit. Im Medizinstudium werden bereits Grundlagen der KI gelehrt, und die Medizininformatik bildet eine Schnittstelle zwischen Medizin und Informatik. Maschinenbauer im Bachelor der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kempten lernen Programmiersprachen wie Python, um neben physikalischen Simulationen auch mit KI in Kontakt zu kommen. Ein weiteres Beispiel ist das AIDAHO-Projekt an der Universität Hohenheim, das Studierenden eine interdisziplinäre Weiterbildung in KI bietet. Auch weltweit finden an Universitäten Neubesetzungen von Professuren statt, die digitale Kompetenzen und interdisziplinäre Zusammenarbeit betonen. Der Nobelpreis für Physik und Chemie 2024 für inter-disziplinäre Arbeiten mit KI zeigt, wie wertvoll die Kombination von KI mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ist.

Die Süßwarenindustrie hat die Chance, durch den Einsatz von KI viele ihrer aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, wie die Preissteigerung bei Kakao, den Rohstoffengpass bei Haselnüssen und die Einhaltung der EU-Verpackungsverordnung. Der Erfolg hängt jedoch nicht nur von der Technologie ab, sondern von der Fähigkeit der Fachleute, interdisziplinär zu denken und zu arbeiten. Es ist entscheidend, die bestehenden Barrieren in der Denkweise und den akademischen Strukturen zu überwinden, um „Brückenbauer“ auszubilden, die verschiedene Disziplinen miteinander verbinden können.

Nur so kann die Süßwarenindustrie von den Potenzialen der KI profitieren und zukunftsfähig bleiben. Um im Hype-Zyklus voranzukommen, müssen wir überzogene Erwartungen und Ängste hinter uns lassen und praxisnahe Lösungen entwickeln dies gelingt nur durch verstärkte Zusammenarbeit der Disziplinen der Lebensmitteltechnologie und der Informatik.

 

https://www.hs-kempten.de/fakultaet-maschinenbau/ueber-uns/personen-detailansicht/christine-borsum


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